Autonomes Fahren: Dieses "Weltbild" "sieht" das Auto. © Boris Buchholz

Auf Augenhöhe mit Google: Forscher der Freien Universität testen ein selbstfahrendes Auto auf der Thielallee

Von Boris Buchholz —

Car-Spotter aufgepasst: Auf der Thielallee können Sie ein besonderes Auto entdecken – ein silberner VW Passat, bunt beklebt, an den Stoßstangen befinden sich ungewöhnliche „Fenster“, auf dem Dach dreht sich rasend schnell ein zylindrischer Aufsatz. Wenn Sie genauer hinsehen, bemerken Sie, dass der Mensch im Fahrersitz gar nicht „fährt“; er berührt das Lenkrad nicht, es dreht sich trotzdem. Auch die Brems- oder Gaspedale bedient der Fahrer nicht. Trotzdem fährt das Auto, beschleunigt, bremst bei einer roten Ampel und blinkt ganz alleine.

 

Der „MadeInGermany“, so heißt der silberne Passat, ist das erste Auto, dessen Sensormix und Steuersoftware, quasi das Gehirn, im Dahlem Center for Machine Learning and Robotics entwickelt wurde, genauer in den Autonomos Labs. Seit 2006 wird am Fachbereich Mathematik und Informatik der Freien Universität an autonom fahrenden Fahrzeugen geforscht, berichtet Daniel Göhring, einer der beiden leitenden Professoren des Auto-Projekts. „Autonome Taxis sind unsere Vision“, berichtet er. Das Forschungsteam will ein Fahrzeug entwickeln, dass komplett selbständig agiert; es soll weder Lenkrad noch Pedale haben. Der Nutzer kann entspannen, lesen, schlafen, aus dem Fenster schauen. „Wir versuchen Level 5 zu implementieren“, erklärt Forscher Göhring, das sei das höchste Niveau bei selbstfahrenden Fahrzeugen. Wer noch selber lenkt, befindet sich auf Level 0.

Seit acht Jahren hat der „MadeInGermany“ die Genehmigung,autonom im Stadtgebiet unterwegs zu sein – allerdings nur mit Sicherheitsfahrer, der im Notfall eingreifen kann. Mit sechs Laser-Radar- und sieben normalen Radarsensoren erkundet das Forschungs-Auto Tag und Nacht seine Umgebung. Zusammen mit acht Kameras und dem sich auf dem Dach drehenden Lidar-Sensor, er misst mit Laserimpulsen Abstände zu Objekten und Menschen, wird ein „Weltmodell“ der Umgebung erstellt: Die künstliche Intelligenz (KI) des Autos erkennt nicht nur Straßenbegrenzungen, andere Autos und Ampeln, sie versucht auch vorherzusehen, wie sich die Objekte in den nächsten Momenten verhalten werden. Dass sich ein fahrendes Auto anders verhält als ein Baum, muss das System erst lernen.

Apropos Baum: Um unabhängiger von hochauflösenden GPS-Sensoren zu werden, orientiert sich „MadeInGermany“ an den Straßenbäumen. Die Wissenschaftler haben eigens dafür Karten erstellt, in der jeder Baum der Stadt erfasst ist. Jede Straßenposition ist über diesen Baum-Fingerabdruck eindeutig zu bestimmen. „Solange Sie Bäume haben, verlieren Sie sich nicht“, ist sich Informatik-Professor Raúl Rojas sicher. Die Thielallee sei eine wunderbare Strecke, um das intelligente Auto zu testen, erklärt Daniel Göhring: Es gebe viele Bäume, das Auto müsste Ampeln erkennen und vor der FU-Mensa sei auch eine für das Roboterauto herausfordernde Verkehrssituation vorhanden. Bestimmt zwei Mal die Woche sei „MadeInGermany“ in Dahlem unterwegs. Auch in Reinickendorf dreht das Auto seine Runden, dort hat das Land Berlin das Digitale Testfeld Stadtverkehr „Safari“ ins Leben gerufen, selbst eine per Funk mit dem Auto kommunizierende Ampel gibt es im Norden der Stadt.

Zurück nach Dahlem: „Die Vision ist, dass man mit diesen Fahrzeugen neunzig Prozent der Autos in der Stadt einsparen kann“, sagt Professor Raúl Rojas. Das Auto der Zukunft käme sicher und schnell zum Nutzer, eigene Fahrzeuge würden vielfach überflüssig, Parkflächen könnten anders genutzt werden. „Die Frage ist nicht, ob das autonome Fahren kommt, sondern wann“, ergänzt sein Kollege Göhring. Allerdings gebe es noch viel zu tun. „Passantenerkennung ist eines der schwierigsten Probleme“, sagt Göhring. Und damit das Auto sowohl zu jeder Jahreszeit und bei allen Lichtverhältnissen, als auch bei reflektierendem Schnee oder tiefstehender Sonne sicher funktioniere, „das braucht noch Forschung“. Doch auch Google habe „die gleichen Probleme wie wir“; international bewegten sich die Forscher der Freien Universität auf Augenhöhe.

Dass unter den Bäumen auf der Thielallee Passagiere von einem Schwarm selbstfahrender Autos befördert werden, sieht Daniel Göhring in den nächsten zehn, zwanzig Jahren nicht als realistisch an: „Ich rede von Level 5!“ Auf die Frage, was man tun könne, um die Forschungen um Künstliche Intelligenz und Roboter-Autos zu unterstützen, nennen die Dahlemer KI-Vorreiter mehr Geld, mehr Informatiker und ein sehr viel größer angelegtes Forschungszentrum. Tim Landgraf, er ist ein weiterer Professor im Team und erforscht biologische Intelligenz, hat noch eine Idee: „Aufforsten!“

 

[zuerst erschienen im Leute-Newsletter Steglitz-Zehlendorf, einem Angebot des Berliner „Tagesspiegels“, am 6. Juni 2019]