Ein Gespräch mit Katrin Göring-Eckardt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags
In Ihrer Rede zur Eröffnung der Ausstellung “Brot, Schuhe …ÜberLeben in Auschwitz” des Internationalen Auschwitz Komitees sagten Sie: “Die Erinnerung an die Shoah ist unabschließbar.” Die Überlebenden des Holocausts sind sehr alt; wie kann in Zukunft ein lebendiges Erinnern an das Mordsystem und die Menschenverachtung im NS-Staat aussehen?
Katrin Göring-Eckardt: Nach dem Verschwinden der Generation der Überlebenden und Zeitzeugen bedarf es einer großen gemeinsamen Anstrengung von Politik und Gesellschaft. Die Frage ist doch: Was werden unsere Enkel und Urenkel noch vom Dritten Reich und der Shoah wissen? Werden sie sich der Verantwortung, die das Menschheitsverbrechen der Shoah für Deutschland bedeutet, noch bewusst sein? Die Weichen dafür werden heute gestellt. Paul Spiegel hat das einmal sehr treffend ausgedrückt, als er sagte, es gehe darum, den „Staffelstab der Erinnerung“ an kommende Generationen weiter zu geben. Damit die Erinnerungskultur lebendig bleibt, sind verschiedene Dinge notwendig: Wir brauchen eine Bildungsoffensive, eine Neugestaltung der schulischen und außerschulischen Bildung in diesem Bereich. Dazu gehört auch, dass die KZ-Gedenkstätten viel stärker als bisher als Lernorte gefördert werden, so dass sie systematisch mit Schulen kooperieren können. Es kann und darf nicht sein, dass Führungen für Jugendliche abgesagt werden müssen, weil an den Gedenkstätten pädagogische Kräfte fehlen! Neben der Bildungsoffensive brauchen wir eine stärkere Unterstützung für zivilgesellschaftliche Initiativen. Ich denke da an Projekte wie den „Zug der Erinnerung“ oder die „Stolpersteine“. Solche Projekte sind unverzichtbar, wenn wir auch in Zukunft eine lebendige Erinnerungskultur haben wollen, die nicht von oben verordnet wird, sondern aus der Mitte der Gesellschaft kommt – sozusagen als „Erinnerung von unten“.
Der Besuch in KZs ist ein Weg, um die unbegreiflichen Fakten emotional spüren zu können. Für Auschwitz-Birkenau wird ein Sanierungsbedarf von circa 60 Millionen Euro veranschlagt. In welcher Verantwortung steht die Bundesregierung und die deutsche Gesellschaft, die Orte der Opfer und Täter zu erhalten?
Katrin Göring-Eckardt: Darauf kann ich kurz und klar antworten: Die Verantwortung für die Erhaltung der Orte des Verbrechens gehört untrennbar zur historischen Verantwortung Deutschlands.
Junge Menschen zu erreichen, ist für die Überlebenden ein wichtiges Anliegen. Wie können junge Leute gegen Neonazis und Rassismus mobilisiert werden? Sind die Älteren ein Vorbild?
Katrin Göring-Eckardt: Statt von Mobilisierung würde ich erst einmal von Bildung und Aufklärung sprechen, das ist der erste Schritt. Wer weiß, was genau während des Nationalsozialismus geschah – die systematische Massenvernichtung von Millionen von Menschen – der ist zumindest schon einmal sensibilisiert und wird, wenn er Zeuge von antisemitischen oder rassistischen Äußerungen wird, eher dazwischen gehen. Natürlich ist das keine Garantie. Die Frage nach den Älteren ist eine wichtige Frage: Es wird ja in der Debatte oft so getan, als gebe es einerseits die Generation der Überlebenden und Zeitzeugen und andererseits die Generation der heute jungen. Der „Mittler“ zwischen diesen beiden Generationen ist doch aber die heutige Elterngeneration. Wenn wir von Bildung und Aufklärung sprechen, dann müssen wir auch darüber nachdenken, wie wir diese Generation erreichen. Denn viele politische Haltungen entstehen im Elternhaus, am Frühstückstisch oder beim abendlichen gemeinsamen Fernsehschauen. Da pflanzen sich politische Einstellungen gewissermaßen fort, denn Eltern sind eben Vorbilder. Deswegen brauchen wir auch für sie Bildungsangebote.
Seit 24 Jahren verleihen Friedensgruppen den Friedensfilmpreis der Internationalen Filmfestspiele Berlin – auch das Internationale Auschwitz Komitee gehört zu den Unterstützern. Welche Rolle kann Film dabei haben, ein friedliches und respektvolles Miteinander – bei allen Unterschieden – zu fördern?
Katrin Göring-Eckardt: Der Friedensfilmpreis ist eine großartige Erfindung, weil er politisches Engagement fördert und unterstützt. Grundsätzlich meine ich aber, dass Politik keine Erwartungen an Kunst und Kultur richten sollte. Kulturschaffenden sollen frei und unabhängig sein, was eben auch bedeutet, dass sie Unnützes und Unpolitisches schaffen dürfen. Aber wenn dann Kunst engagiert und politisch ist, freue auch ich mich natürlich. Ich glaube, Film kann ähnlich wie Musik viele unterschiedliche Menschen erreichen. Denn viele Filme zirkulieren global und werden von unterschiedlichsten Menschen gesehen. Zugleich ist es ein sehr emotionales, oft auch überwältigendes Medium, das uns sehr direkt erreicht. Dadurch lassen Kinobesucher oft auch bestimmte politische Botschaften eher an sich heran, als wenn sie diese nur lesen würden. Dass in den letzten Jahren viele Filme aus bisher eher unbekannten Regionen der Erde auch in Deutschland zu sehen waren, freut mich sehr. Dadurch besteht die Chance, dass ein größeres Bewusstsein für globale Ungleichheit entsteht. Der Friedenspreis ist da ein wichtiger Beitrag dazu, denn er stellt eine Öffentlichkeit für solche Filme her und macht so indirekt bewusst, was auf der Welt an Ungerechtigkeit geschieht. So gesehen ist dieser Preis auch ein Appell an uns alle.
Politische und kritische Filme gibt es bei der Berlinale viele; dennoch haben es die Filmemacher oftmals schwer, ihre Arbeit zu finanzieren. Wie wichtig ist politischer Film und wie können engagierte und kritische Filmemacher besser unterstützt werden?
Katrin Göring-Eckardt: Ganz grundsätzlich bin ich natürlich der Meinung, dass Film nicht nur ein Wirtschaftsgut sondern vor allem eine Kunstform ist. Deshalb darf er nicht dem freien Markt allein überlassen werden. Er braucht die besondere Unterstützung des Staates. Darin sind sich zum Glück alle Parteien einig. Im Rahmen der Novellierung des Filmförderungsgesetzes haben wir Grüne uns letzten Herbst für eine bessere Förderung der Filmemacher eingesetzt. Teilweise wurden unsere Vorschläge berücksichtigt, teilweise nicht. Ein Hauptproblem ist, dass selbst erfolgreiche Filmregisseure oft lange Zeiträume ohne zureichende materielle Absicherung überbrücken müssen, insbesondere in der sogenannten „Preproduction“-Phase, wenn sie einen neuen Film vorbereiten. Oft kehren Regisseure deshalb dem Kinofilm den Rücken und gehen zum Fernsehen, wie leider auch viele gute Drehbuchschreiber. Deshalb muss die Filmförderung stärker die besonderen Arbeitsrhythmen der Filmszene beachten. Einer unserer Vorschläge war es deshalb, Regisseure in die Referenzmittelförderung einzubeziehen. Leider wurde dies von der Großen Koalition nicht aufgenommen.
Die Berlinale hat sich jahrelang sehr schwer mit dem Friedensfilmpreis, dem einzigen Friedenspreis bei einem A-Festival weltweit, getan. Zunächst vom Forum getragen hat sich der Friedensfilmpreis in der Ära Dieter Kosslicks als einer der renommierten unabhängigen Preise der Berlinale fest etabliert. Was wünschen Sie dem Friedensfilmpreis und der Berlinale für die Zukunft?
Katrin Göring-Eckardt: Viel öffentliche Aufmerksamkeit, prominente Unterstützer und Laudatoren sowie eine langfristig gesicherte Zukunft im Rahmen der Berlinale.
Was ist Ihr persönlicher Lieblings-Friedensfilm?
Katrin Göring-Eckardt: „Der Drachenläufer“ ist ein schöner Friedensfilm, vor allem, weil er Kindern und Jugendlichen das Thema sehr gut nahe bringt. Auch der Dokumentarfilm „The Wall“ gefällt mir sehr gut, weil er wie kaum ein anderer Film den Friedenswillen im Nahen Osten verdeutlicht.
Herzlichen Dank!
Das Gespräch führte Boris Buchholz, Pressesprecher des Friedesfilmpreises, im Jahr 2010. [www.friedensfilm.de]