„Gemeinsam nach vorne gehen“

[2010] Ein Gespräch über Versöhnung und Gedenken mit Ralf Meister, dem Berliner Generalsuperintendenten. Er erklärte in seiner ersten Predigt seiner Amtszeit, sich mit dem Gewohnheitsatheismus nicht abzufinden. Im Gespräch mit den Tempelhofer Nachrichten erklärte er: „Ganz egal wie mein Umfeld jeweils sein wird, glaube ich, dass das Zeugnis meines Glaubens in dieser Welt sichtbar und hörbar sein muss für alle Menschen, mit denen ich zu tun habe. Egal wie viel säkularer Sturmwind mir um die Nase weht, nehme ich es als Herausforderung an, meinen Glauben offensiv und glaubwürdig zu vertreten.“

Herr Meister, zum christlichen Glauben gehören Versöhnung und Gedenken fest dazu. Inwieweit ist in Berlin Versöhnung nötig?

Ralf Meister: Es gibt eine schmerzhafte Wunde in der Stadt, das war die Trennung zwischen Ost und West. Jahrzehntelang wurden Menschen zentrale Menschenrechte genommen. Und nach der friedlichen Revolution wurde ihnen ihre eigene Geschichte entzogen, sie wurden enteignet. Wie kann es gelingen, versöhnt in einem anderen gesellschaftlichen Rahmen gemeinsam zu leben? Ein wichtiger anderer Punkt der Versöhnung geht tief in diese Wunde hinein: Können sich Opfer und Täter in unserer Gesellschaft versöhnen? Das beziehe ich auch auf Stasi-Opfer und -Täter. Wie gelingt es, in diesem Zusammenhang Versöhnung zu erfahren?

Oder auch Vergebung einzufordern von den Opfern?

Ralf Meister: Einfordern ist schwer. Man kann nicht fordern: Du musst vergeben! Das funktioniert nicht. Vergebung ist in diesem Zusammenhang immer ein langer, vielleicht sogar ein endloser Weg des Miteinanders von Menschen. Und er setzt eine Schuldeinsicht voraus. Eine Schuldeinsicht der Täter.

Es gibt ja – gerade im Ost-West-Zusammenhang – viele Menschen, die nicht versöhnen wollen: Täter, die auch heute noch sagen, sie hätten genau richtig gehandelt, und Opfer, die so gelitten haben, dass sie schwerlich vom Erlebten absehen können.

Ralf Meister: Vergeben und versöhnen bedeutet eine konstruktive Bearbeitung erlittenen oder zugefügten Unrechts. Es bedeutet nicht, das Unrecht damit zu minimieren oder aufzuheben. Oder die Erinnerung an dieses Unrecht aufzuheben. Es ist eine Geste, wie im Angesicht dieses Unrechts, im Wissen meiner Schuld oder meines Leidens, ein gemeinsames Leben möglich ist. Deshalb geht es nicht nur um die Frage, wer den ersten Schritt macht, sondern mit welcher Haltung er verbunden ist.

Ist der gemeinsame Glauben bereits ein erster Schritt hin zur Versöhnung?

Ralf Meister: Der Bezug auf Gott bedeutet noch nicht Versöhnung. Es reicht nicht festzustellen, dass „du an Jesus Christ glaubst“ und „ich doch auch“, dann wird es schon gutgehen. Deswegen hat die Kirche Rituale ausgearbeitet, in denen Versöhnung auch einen Ort findet. Dazu gehört zum Beispiel nicht nur, sich zu entschuldigen, sondern es muss eine ehrliche Auseinandersetzung über das, was man getan hat, erfolgen. Man muss die eigene Sündhaftigkeit erkennen und eine sichtbare Reue spüren.

Versöhnung ist nicht nur ein Thema für die großen gesellschaftlichen Probleme …

Ralf Meister: … Versöhnung basiert auf individuellen Erfahrungen. Es kann die Erfahrung in zerbrochener Familie sein, die Erfahrung von persönlichem Unrecht. Man muss nicht immer nur die ganz großen historischen Zusammenhänge erwähnen. Versöhnung ist eine theologische Geste, aber sie möglich zu machen, ist eine persönliche Fähigkeit. Ein Beispiel: Als ich über Unrecht im Nationalsozialismus geforscht habe, traf ich auf einen Theologen, der überzeugter Nationalsozialist war. Ich fand jemanden, der unter ihm gelitten hatte und ging zu diesem alten Mann mit dem Gefühl: Nun hast du endlich jemanden, der diesen Nazi nach Strich und Faden fertig macht. Mein Gesprächspartner aber begrüßt mich mit den Worten: „Wir können nicht nur von Vergebung reden, wir müssen sie auch tun. Sie werden von mir kein böses Wort über diesen Menschen hören.“ Das hat mich sehr bewegt.

Ist Versöhnung ein Aufruf zu mehr Toleranz?

Ralf Meister: Das ist zu kurz. Natürlich brauchen wir eine überzeugte tolerante Haltung im Zusammenleben der Menschen. Überzeugt tolerant heißt eben nicht: Jeder glaubt, was er will und es ist mir eigentlich egal. Sondern es heißt, einen respektvollen Umgang miteinander zu pflegen und durchaus auch eine andere Position abzulehnen – aber in einer Form, in der man trotz der Ablehnung friedlich miteinander leben kann.

Sie haben im Zusammenhang mit der von Ihnen mitinitiierten Karfreitagsprozession gesagt, dass Folter und die Verletzung der Menschenrechte nicht hinnehmbar seien. Gibt es also Grenzen der Vergebung?

Ralf Meister: Vergebung hebt geschehenes Unrecht nicht auf. Deshalb muss Unrecht auch strafrechtlich verfolgt werden. Doch jede Versöhnung im Glauben ist eine Hilfe, einen gemeinsamen Weg zu suchen. Einen gemeinsamen Weg, derer, die getrennt waren. Jeder weiß aus seinem eigenen Leben, an welchen Stellen er Grenzen überschritt und Dinge getan hat, die jemanden für sein ganzes Leben lang verletzt haben. Versöhnung heißt also, Geschehenes bewusst zu machen und dennoch einen Ausgangspunkt zu schaffen, von dem man gemeinsam nach vorne gehen kann. Dafür gibt es keine Grenzen.

In Tempelhof steht die Martin- Luther-Gedächtniskirche, die von den Nazis gebaut wurde. Wie bewerten Sie den Umgang mit dieser Kirche?

Ralf Meister: Historisch schwer belastete Orte als Erinnerungsmal zu erhalten, ist ein Weg. Ich bin mir noch nicht sicher, ob die Martin-Luther-Gedächtniskirche ein wacher Erinnerungsort wird und wenn ja, mit welcher Pointierung. Es spricht viel für das aktuelle Konzept. Aber auch die Zerstörung der Kirche wäre eine erstzunehmende Alternative gewesen. Die Vernichtung eines Ortes wirkt zwar nur kurzzeitig, aber sie ist eine heftige und aggressive Geste gewesen gegen eigene innere Bilder und Orte. Auch das könnte – in ganz seltenen Fällen – eine Form des Umgangs mit Erinnerung sein. Sicher ist, dass die Zerstörung eines solchen Ortes kulturhistorisch verfehmt ist – aber wäre sie nicht auch ein Signal gewesen?

Sie sind für das Bischofsamt in Niedersachsen nominiert, Ende November entscheidet die Synode. Entstehen durch Ihr Engagement in Niedersachsen Risse in Berlin, die Versöhnung nötig machen?

Ralf Meister: Meine Nominierung bedeutet – und dafür habe ich viel Verständnis – eine große Enttäuschung in Bezug auf das in mich gesetzte Vertrauen und auf die gemeinsam begonnene Arbeit. Diese Enttäuschung bleibt. Falls in Hannover positiv entschieden wird, hoffe ich sehr, dass wir dennoch in Dankbarkeit voneinander gehen können. Ich bin – egal wie die Wahl ausgeht – dankbar für die Erfahrungen, die ich in den letzten Jahren machen durfte.

Das Gespräch führte Boris Buchholz

 

Titelbild Tempelhofer Nachrichten[Abgedruckt in den „Tempelhofer Nachrichten“ des Evangelischen Kirchenkreises Berlin-Tempelhof, Ausgabe 38, Dezember 2010]