Wut auf die Verhältnisse

Im Gespräch mit Oliver Gehrs, Herausgeber und Chefredakteur des unabhängigen Gesellschaftsmagazins »Dummy«, über das Gründen ohne Geld, die Erfahrungen aus 25 bisherigen Ausgaben und den politischen Nachholbedarf der Grafiker.

»Dummy« ist 2003 von Jochen Förster, Heike Blümner und Ihnen geboren worden – ohne Geld im Hintergrund, ohne Verlag. Warum haben Sie »Dummy« gegründet?

Wir waren vom publizistischen Angebot enttäuscht – sowohl aus der Sicht von Medienmachern als auch von Lesern. Ich war bei der »Süddeutschen Zeitung« und beim »Spiegel« gewesen, Jochen bei »Stern« und »Welt«, Heike machte unter anderem Filme für Arte und das ZDF. Wir haben die großen Verlage als große Ideen-Verhinderungs-Maschinen gesehen, mit endlosen und ergebnisschwachen Konferenzen, mit kompromisslerischen Themen. Hinzu kam die Medienkrise von 2002, in deren Verlauf viele mediale Angebote dicht gemacht wurden. Man sah, dass die Großen nicht mehr gewillt waren in Experimente und gewisse Felder zu investieren. Das war der Anlass für uns, etwas Eigenes zu machen.

Stand nicht von Anfang an David gegen viele Goliaths?

Wir glauben, dass kleinere Blätter, die trennschärfer und politischer ihr Publikum ansprechen, sowieso eine größere Zukunft haben als die Massenblätter. Denn die Massenblätter verstehen es nicht, die Lebensgefühle einzelner moderner Millieus einzufangen. Wir haben es als politische und gesellschaftliche Aufgabe gesehen, erstens uns selber mit einem schönen Job zu bereichern, nämlich selber ein Magazin zu machen. Zweitens wollten wir dem einen oder anderen Leser, der so denkt wie wir, einen Ausweg aus der Langeweile bieten.

Heike Blümner, Jochen Förster und Sie waren vor der Dummy-Gründung keine langjährigen enge Freunde. Ist das eines der Erfolgsrezepte von Dummy?

Ich glaube nicht an diese Sprüche wie „Don‘t shit where you eat“ oder „Verlieb Dich nicht auf der Arbeit“. Ich kenne genug Gegenbeispiele, bei denen es geklappt hat. Aber: Man muss mit Leuten zusammenarbeiten – und das gilt auch für Grafiker –, die für eine Sache wirklich brennen. Die auch eine Haltung und eine moralische Entrüstung haben. Die eine Wut auf die Verhältnisse haben. Einfach nur vor sich hin zu leben und Geld zu verdienen, das kann es ja nicht sein. Vor allem kann das kein journalistischer Anspruch sein.

Wie hat die Dummy-Gründung ohne Geld funktioniert?

Das war sehr einfach. Die Ressourcen, die man braucht, um ein Magazin zu machen, sind damals immer günstiger geworden. Programme, Computer, die Preise für Papier und Druck waren 2003 im Keller. Es findet ja nicht nur eine Demokratisierung im Internet statt, wo jeder mit seinem eigenen Blog sein eigener Verleger sein kann.

Konkret zur ersten Ausgabe: Für das Heft „Nummer Eins“ wurden keine Honorare gezahlt?

Genau. Ab der zweiten Ausgabe haben wir dann eine schwarze Null geschrieben. Du musst dein Engagement für ein solches Projekt von Anfang an quer finanzieren können. Man muss damit rechnen, dass es zwei bis drei Jahre braucht, bis man davon leben kann.

Es scheint, »Dummy« hat sich wirtschaftlich bis heute gut entwickelt.

Unser großes Glück war, dass wir journalistisch so viel Renomée eingeheimst haben. Dadurch sind wir auf dem Radar von anderen Auftraggebern gelandet. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat sich entschieden, ihr Jugendmagazin »fluter« mit uns und nicht weiter mit der Süddeutschen Zeitung zu machen. Selbst eine Behörde hat inzwischen begriffen, dass die publizistische Kreativität nicht bei der Süddeutschen Zeitung oder Gruner+Jahr zu finden ist. Auch das Bundesamt für Strahlenschutz ist unser Kunde geworden; wir erstellen für das Amt Zeitungsbeilagen. Allerdings sind wir nach sechs Jahren mit dem Magazin auf einer Flughöhe, in der wir auch ganz gut nur von »Dummy« leben könnten.

Ist das aktuelle Heft zum Thema „Mama“ politisch?

Aber ja. Ich war gerade beim »Tagesspiegel«, der für uns den Einzelheft- und Abovertrieb macht. Mir wurde erzählt, dass im spießbürgerlichen Berliner Stadtteil Steglitz-Zehlendorf die Kioskbesitzer das »Mama«-Heft teilweise nicht ausgelegt haben, weil es ihnen zu pornographisch sei. Die Bilder des Anstosses waren Fotos vom New Yorker Künstler Leigh Ledare, die er von seiner Mutter und ihren Lovern gemacht hat. Natürlich ist auch ein angeblich pornographisches Mutter-Heft eine politische Angelegenheit, denn die Reaktionen zeigen, wie verklemmt die Gesellschaft ist. Auch das Männer-Heft war sehr politisch, weil auf dem Titel männliche Emotionen gezeigt wurden: Israelische Soldaten, die weinen. Politischer geht es ja gar nicht.

Das vorletzte Heft hatte den Schwerpunkt »Atom« und war ein Plädoyer für den Ausstieg …

Ich würde gerne etwas zu Grafikern und Politik loswerden. Ich würde mir von Grafikern wünschen, dass sie politischer und intellektueller werden. Grafik ist ein Gewerbe, in dem es einen unheimlichen Nachholbedarf gibt, politisch zu werden. Früher gab es das einmal: Grafiker, die durch ihr Wirken mit Journalisten kollaboriert haben, um etwas anzuzetteln oder etwas auszurichten. Inzwischen suchst du ja Grafiker, die eine Zeitung lesen, mit der Lupe. Wir haben 25 Grafikteams durchgeschleust – jede Ausgabe wird von anderen Grafikern gestaltet – und bei diesen 25 gab es ganz wenige, die inhaltlich mitdachten. Das Atom-Heft ist ein gutes Beispiel: Wir wollten durch die Grafik die Leute erreichen und den Gedanken initiieren: »Anti-Atom sind nicht mehr die hektographierten Blätter von gestern und schweißfüßige Birkenstockträger – Anti-Atom ist schick.« Ich wünsche mir, dass es noch viel mehr Grafiker gibt, die ihre Arbeit auch als politisches Projekt sehen.

Machen Sie die vielen Journalismus- und Designpreise stolz, die »Dummy« regelmäßig erhält?

Uns macht stolz, wenn wir selber das Magazin gut finden und ich eine Ausgabe Monate oder Jahre später in die Hand nehme und feststelle: »Mann, das ist ja total interessant, das sind gute Geschichten.« Stolz macht mich der Zuspruch von unseren Lesern. Unsere externen Abobetreuer erzählen, dass sie noch nie eine so loyale Leserschaft erlebt haben, die praktisch um die Rechnung bettelt.

bb
Titelbild agd|viertel 2010 Nr. 1[Erstmals veröffentlicht im Februar 2010 in dem Designmagazin „agd|viertel“ der Allianz deutscher Designer]